Waris: Briefe an meine Mutter, Teil III

„Zeit der Versöhnung“

Waris mit ihrer Mutter
Waris mit ihrer Mutter

Wir freuen uns, Ihnen den dritten Brief von Waris Diries Briefserie vorstellen zu können. Darin beschreibt sie das schwierige Wiedersehen mit ihrer Mutter, mit der sie sich wieder versöhnen möchte.

Liebe Mama,

Ich trage dieses Bild bei mir, wo immer ich auch bin. Es zeigt dich in der somalischen Wüste. Du hast ein weites, afrikanisches Kleid an, das bis zum Boden reicht. Es ist bunt und grell, zeigt alle Farben der Welt. Um deinen Hals baumeln unzählige Ketten aus Gold, die Finger sind voll mit Ringen. Ich weiß, dass du es so magst. Du siehst stolz aus und erhaben, dein Gesicht ist glatt wie das eines Mädchens. Dein Blick ist unergründlich wie die See und vielleicht ist es auch das, was ich an dem Bild am meisten liebe.

Als wir uns das letzte Mal sahen, hatten wir einen riesigen Streit. Wir haben beide geschrieen, getobt und geweint vor lauter Wut, Enttäuschung, und auch aus Schmerz. Wir haben uns Worte an den Kopf geworfen, die besser ungesagt geblieben wären. Wir sind schließlich auseinander gegangen wie zwei Streithähne, ermattet nach einem stundenlangen Kampf.

Ich sitze nun hier in meinem kleinen Häuschen in Südafrika, das zu meinem neuen Refugium geworden ist. Dein Bild steht vor mir am Schreibtisch und ich kann deinem Blick nur selten entgehen. Ich schaue auf das Meer hinaus, auf die Wellen, auf die kleinen Fischerboote, die vor der Küste treiben. Es ist später Nachmittag. Die Sonne zeigt sich glutrot und ist am Horizont schon halb ins Meer abgetaucht. Sie geht hier in Afrika so anders unter als in Europa. In der alten Welt salutiert sie ab wie ein Soldat, in Afrika versinkt sie unsagbar langsam, so wie ein Schiff im Ozean.

Ich habe nicht viel geschlafen die letzten Nächte. Ich war aufgewühlt und durcheinander. Ein Feuer loderte in mir. Ich suchte nach einer Möglichkeit, dir nahe zu kommen, aber mir fiel nichts ein. Ich wälzte mich im Bett hin und her. Ich habe dir noch so viel sagen, aber ich weiß nicht wie. Ich muss dir einiges beichten, aber ich finde keinen Weg. Die Wahrheit ist oft wie eine Rose. Wer nach ihr greift, muss damit rechnen, gestochen zu werden. Es tut weh, unsagbar weh, dass ich mir eingestehen muss: „Waris, du hast in deinem Leben viel geschafft, aber ein Ziel nie erreicht: in das Herz deiner Mutter zu gelangen“.

Ich wollte immer, dass du stolz auf mich bist, dass du daheim erzählst von deiner Tochter in der fremden Welt. Dass du dabei Bewunderung empfindest für die starrköpfige, dickköpfige, trotzköpfige Waris, die sich durchgeboxt hat in ihrem neuen Leben. Ich weiß: Vieles von dem, was ich tue und sage, verstehst du nicht oder kannst du nicht gut heißen, weil dir deine Tradition etwas anderes vorschreibt. Du lebst im alten Afrika, gefangen in all seinen Riten und Sitten. Ich trage mein Afrika in mir. Es ist ein modernes Afrika, eine kraftvolle Mischung als Tradition und Erneuerung. Liebe Mama, alles was ich von dir möchte, ist, dass du versuchst mich zu verstehen.

Wenn man das, was einen im Leben scheinbar wichtig ist, mit der Hand einfach wegschieben könnte, was bliebe dennoch immer so wie es war? Die Liebe einer Tochter zu ihrer Mutter. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Nichts auf der Welt ist so stark wie dieses Band.

Nach den durchwachten Nächten hatte ich eine Idee. Ich begann, dir einen langen Brief zu schreiben. Vielleicht, so dachte ich mir, schaffe ich es, auf Papier zu bringen, was ich dir nicht ins Gesicht sagen konnte. Nach den ersten paar Zeilen, zerknüllte ich den Zettel und schleuderte ihn enttäuscht zu Boden. Aber ich gab nicht auf und begann von vorne. Ich schrieb und ich warf  weg, ich schrieb und warf weg. Dann gelang mir die erste Seite, wenig später eine zweite. Ich schrieb immer flotter, steigerte mich in einen Rausch der Gefühle, ich schrieb und schrieb und schrieb. Die Finger begannen zu schmerzen, aber es kümmerte mich nicht. Mein Bleistift flog nur so übers Papier. Die Zeit verrann, ich vergaß zu essen und zu trinken. Als ich müde wurde, schlief ich ein paar Stunden, dann setzte ich mich wieder an den Schreibtisch und machte wie in Trance weiter.

Es sind sehr intime Zeilen, Mama. Vieles von dem, was ich dir schreibe, habe ich noch nie jemandem erzählt. Nicht einmal meinen besten Freunden. Mehr als einmal musste ich mich überwinden, dir die nackte Wahrheit zu schildern. Aber die Zeit ist gekommen, um Zeugnis abzulegen. Die Wahrheit zu sagen und nichts als die Wahrheit.

Ich will, dass du verstehst, warum ich so bin wie ich bin. Vielleicht schaffe ich es so, dir nahe zu kommen.

Wir sind Mutter und Tochter, blutverwandt, aber doch grundverschieden. Wir sind Tausende Kilometer voneinander getrennt, aber unsere Ansichten liegen oft so weit voneinander entfernt als würden wir auf unterschiedlichen Planeten leben. Ich habe oft die Hand zur Versöhnung ausgestreckt, aber du hast sie immer ausgeschlagen. Egal, ob wir über Religion, Tradition, Familie gesprochen haben – wir fanden nie zueinander. Da war kein Verständnis für die Sichtweise des anderen. Dabei wünsche ich mir nichts in meinem Leben mehr als von dir verstanden zu werden.

Ich bin und bleibe Waris, deine Wüstenblume. Geboren in deinem Schoß in der Wüste Somalias, halb tot geprügelt vom jähzornigen Vater, genitalverstümmelt einer grausigen Tradition wegen. Ich lief weg mit nichts als den Kleidern auf dem Leib. Eine gnädige Welle spülte mich nach London, eine günstige Woge trug mich nach oben. Aus Waris der Wüstenblume, wurde Waris das Top-Model, die UNO-Sonderbotschafterin, die Kämpferin gegen das Unrecht der Genitalverstümmelung, die Erfolgs-Autorin. Viele Millionen Menschen lasen die Bücher über mein Leben.

Aber Mama, das ist nicht die ganze Geschichte. Denn seit vielen Jahren trage ich ein Geheimnis in mir. Ich habe noch nie darüber gesprochen. Nach außen hin bin ich die starke Waris, die Kämpfernatur, immer schön, immer lächelnd. Nach innen aber bin ich verletzlich, unsicher, nach wie vor wie fremd in dieser großen, bunten Welt. Schuld daran ist ein Dämon, der über meinem Leben schwebt. Manchmal glaube ich, dass er verschwunden ist oder dass ich ihn besiegt habe. Aber dann taucht er plötzlich wieder auf und das mit einer Wucht und Brutalität, dass es mich umreißt und in die Dunkelheit zerrt.

Dieser Dämon hat die Befehlsgewalt über mein Leben. Er bestimmt, was ich fühle, was ich im Leben schaffe, ob es mir gut geht oder schlecht. Vielleicht kannst du mir helfen, diesen Dämon zu besiegen, Mama. Gemeinsam sind wir stark, Mutter und Tochter.

Mama, mit diesem Brief trete ich vor dich hin und bitte dich um deine Hilfe und um deine Liebe.

Deine Waris, deine Wüstenblume. Deine Tochter.

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Waris mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Leon
Waris mit ihrer Mutter und ihrem Sohn Leon

Vissza