Waris: Briefe an meine Mutter

„Meine Einsamkeit“

Waris und ihre Mutter in Wien
Waris und ihre Mutter in Wien

In den nächsten Tagen veröffentlichen wir einige persönliche Briefe von Waris Dirie an ihre Mutter.

Heute dürfen wir Ihnen den ersten Brief vorstellen:

Mama,

wenn ich in Europa oder den USA bin, träume ich davon, nach Afrika zurückzukehren und in Afrika zu leben. Ich sehne mich nach meiner Kindheit, nach den unendlichen Weiten der Wüste, dem klaren Sternenhimmel in der Nacht, den Farben und Gerüchen. Wenn ich alleine in meinem Bett liege, dann habe ich manchmal das Gefühl, dass es mir mein Herz zerreißt vor lauter Heimweh.

Mama, aber wenn ich in Afrika bin, dann sehne ich mich wieder nach meinen europäischen Freunden, nach meinem Sohn Aleeke und dem Leben in Europa. So geht es mir auch jetzt. Ich bin und bleibe eine Nomadin.

Mama, wenn ich mir die Frage stelle, wo ich eigentlich zu Hause bin, dann fällt mir nichts ein, dann entsteht in mir eine große Leere, ein großes schwarzes Loch. So gerne würde ich diese beiden Welten für mich miteinander verbinden, aber es gelingt mir nicht. Ich fühle mich oft heimatlos und entwurzelt.

Als ich mit meiner Kampagne gegen Genitalverstümmelung begonnen habe, da gab es viele afrikanische Frauen und Männer, die mir vorwarfen, unsere Tradition, unsere Kultur zu verraten. Das hat mich unglaublich getroffen, denn das ist das Letzte, was ich möchte. Ich will unsere Heimat nicht verraten! Ich will nicht als Verräterin gelten! Ich will, dass Afrika ein sicherer Platz für Kinder wird, dass Mädchen nicht mehr genital verstümmelt werden und seelisch traumatisiert werden. So wie es mit mir geschehen ist.

Ich habe viel geweint in dieser Nacht in Prag, Mama. Ich konnte nicht mehr einschlafen, ich habe mit der Fernbedienung des Fernsehers gespielt, ich habe ständig zwischen allen Programme hin- und hergeschaltet, um etwas zu finden, dass mich ablenkt, mich abbringt von meinen düsteren Gedanken. Dann habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt und versucht meine Gefühle in Worte zu fassen, aber dann doch nur irgendwelche, sinnlosen Zeilen gekritzelt. Ich stand am Fenster und schaute auf das Lichtermeer der Stadt. Ich wünschte mir, dass ganz schnell der Tag anbricht, die Sonne aufgeht. Ich habe mich wie der einsamste Mensch auf diesem Planeten gefühlt.

In Liebe

Deine Waris

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Waris mit ihrer Mutter in Somalia
Waris mit ihrer Mutter in Somalia

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